„Sprachliches Phantomjucken“ … oder besser … „Linguistischer Phantomschmerz“. Ja, das trifft mein derzeitiges Erleben recht gut.
Es gibt Sachen, die man in einer Sprache (und der damit verbundenen Kultur) einfach nicht sagen oder ausdrücken kann.
Den folgenden Witz von Jimmy Carr kann man zum Beispiel auf Deutsch nicht erzählen, weil die Doppeldeutigkeit von „to get“ (werden und bekommen/erhalten) und „to cross“ (kreuzen und verärgern) nicht existiert.
What do you get when you cross the Queen and Prince Philipp?
Killed in a tunnel in Paris.
Wittgenstein kommt mir in den Sinn.
„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“
Ludwig Wittgenstein
Als Übersetzer habe ich eine professionelle Angst vor solch unübersetzbaren Sätzen, auch wenn mir bisher − Toi, toi, toi − noch kein solcher untergekommen ist.
Ein anderes Beispiel ist „Danke“ in Indien. Hindi hat sogar zwei Wörter für Danke: das aus dem Sanskrit stammende धन्यवाद (dhanyavad) und das Arabische शुक्रिया (shukriya), aber im Alltag werden diese Wörter nicht benutzt. Man sagt einfach nicht so exzessiv „Danke“ wie bei uns. Die einzigen Menschen, die ich bei all meinen zahlreichen Besuchen in Indien Dhanyavad habe sagen hören, sind wohlmeinende Touristen, die ein paar Wörter Hindi, nicht aber deren richtige Anwendung, gelernt haben.
Es klingt aber komplett falsch, weil der kulturelle Aspekt vernachlässigt wird. Wahrscheinlich würde man jemandem Dhanyavad sagen, der einem eine Niere oder ein Herz spendet.
Interessanterweise ist der Impuls „Danke“ zu sagen überwältigend. Die unzähligen „Was sagt man?“-Ermahnungen unserer Eltern funktionieren und rufen jedesmal einen kleinen „linguistischen Phantomschmerz“ hervor.
Es ist aber das Türkische, das mir derzeit den größten „linguistischen Phantomschmerz“ bereitet.
Das Türkischen wimmelt von Floskeln. Es ist phantastisch. Ich habe manchmal das Gefühl man kann einen türkischen Alltag komplett nur mit Floskeln bestreiten.
Eine Floskel ist ein feststehender Ausdruck, den man in einer bestimmten Situation benutzt. „Gute Besserung!“ oder „Guten Appetit!“ zum Beispiel.
Das Türkische hat unzählige feststehende Ausdrücke zu beinahe jeder Gelegenheit:
Jemand ist krank? „Geçmiş olsun!“ (möge es vorbei gehen)
Jemand hat (gut) gekocht? „Elinize sağlık!” (Segen Ihren Händen!)
Jemand war beim Friseur oder hat sich rasiert? „Sıhhatler olsun!“ (Gesundheit)
Jemand hat sich etwas neues gekauft? „Güle Güle kullan!“ (Nutze es lächelnd)
Zu jemandem, der in einem Laden etwas verkauft: „Hayırlı işler!“ (Gesegnete Arbeit)
Besonders gut gefällt mir der Austausch, der einem Niesen folgt:
Auf türkisch niest man übrigens „Hapşuu!“.
Darauf wünscht man „Çok yaşa!“, etwa „Lebe lang!“
Die Antwort lautet: „Sen de gör!“ was soviel heißt wie, „Und Du schau mir dabei zu!“, was natürlich ebenfalls ein langes Leben vorraussetzt und so viel eleganter ist als „Du auch.“
Mein Lieblingsausdruck ist aber „Kolay gelsin“, was soviel heißt wie „möge es (Dir) leicht fallen.“ Man sagt es zu Menschen, die (körperlich oder geistig) arbeiten.
„Kolay gelsin“ wird dabei wie ein Gruß verwendet, man kann es beim Kommen und beim Gehen sagen.
Ich glaube, was mir daran gefällt ist, daß ich Arbeit grundsätzlich als etwas Negatives, eine Last empfinde und „Kolay gelsin“ erkennt das an und wünscht sowas wie „Gute Besserung“. Ganz besonders, wenn man selber nicht arbeitet.
Und ich würde so gerne „Kolay gelsin“ sagen. Im Januar wurden nämlich offenbar die neuen Budgets ausgegeben und in Flores wird fleissig gearbeitet: Die kompletten Straßen auf der Insel werden abschnittsweise saniert, die Laternen bekommen einen neuen Anstrich, überall sind Bauarbeiter am Graben, Sägen, Schaufeln, Verlegen, Anstreichen.
Und die Männer, die hier arbeiten, sind typische Guatemalteken: etwas zurückhaltend aber freundlich. Sie schauen kurz auf, wenn ich vorbei laufe. Ich lächle und sage „Hola!“, sie grinsen und erwiedern den Gruß.
Wie passend wäre „Kolay gelsin!“, aber das kann man hier nicht sagen. Und wieder fühle ich den „linguistischen Phantomschmerz.“